Verhaltenstherapeutische Selbsterfahrung:
Der theoretische Hintergrund
 

Die folgenden Passagen entstammen zum Teil meinem Beitrag:

Schmelzer, D. (1997). Berufsbezogene Selbsterfahrung/Selbstreflexion nach dem Selbstmanagement-Ansatz. In H. Lieb (Hrsg.), Selbsterfahrung für Psychotherapeuten (S.57-68). Göttingen: Verlag für Angewandte Psychologie.  

 

Ziele der Selbsterfahrung während der Verhaltenstherapie-Ausbildung
Die Selbsterfahrung als Bestandteil der Therapieausbildung hat den Zweck, persönliche Einflüsse auf die Therapie zu erkennen, zu reflektieren, zu bearbeiten und dann zu antizipieren.

Sie soll helfen,
(a) negative Einflussgrößen (persönliche Schwächen, Ängste, Probleme, „blinde Flecken", schädliche Motive etc.) zu registrieren, geringzuhalten, zu kontrollieren bzw. damit adäquat umzugehen, aber auch
(b) positive Aspekte (persönliche Stärken, Kompetenzen und Ressourcen) zu erkennen, zu kultivieren und besser zu nutzen.

Anders formuliert soll die Wahrscheinlichkeit erhöht werden, dass die Anforderungen und Ziele des diagnostisch-therapeutischen Prozesses die Therapie bestimmen und nicht prozessfremde Interessen (z.B. egozentrische Motive des Therapeuten, Wahrnehmungsverzerrungen, „blinde Flecken", Vermeidungstendenzen, Lieblingsthemen, Ängste und Probleme des Therapeuten etc.).

 
Berufsbezogene Selbsterfahrung
Selbsterfahrung für Psychotherapeut(inn)en ist primär berufsbezogen: Zwar gibt es keine strenge Trennung von „beruflichen" und „privaten" Bereichen eines Therapeuten, und außerberufliche Ereignisse und Erfahrungen werden natürlich stark mit einbezogen. Die Selbsterfahrung während einer Ausbildung sollte sich jedoch immer um einen Bezug zur Berufstätigkeit der Therapeut(inn)en bemühen – z.B. über die Fragen: „Welchen Einfluss könnte dieser Aspekt meiner Person auf mein berufliches Verhalten haben?" oder anders herum: „Was sagt mir mein Erleben und Verhalten in dieser Berufssituation über mich und meine Person?"

 

Selbsterfahrung: Kontinuierliche Bedeutung
Selbsterfahrung/Selbstreflexion ist zwar ein verpflichtender Baustein während der Ausbildung, jedoch mit dem Erwerb eines „Zertifikats" nicht beendet. Sie ist kontinuierlich relevant. Idealerweise nutzen angehende Therapeut(inn)en die Erkenntnisse ihrer Ausbildungs-Selbsterfahrung, um bei ihrer späteren Berufsausübung kontinuierlich auf den Einfluss bestimmter persönlicher Faktoren (Stärken wie Schwächen) zu achten.

 

Was bedeutet Selbsterfahrung (SE) nicht?
(1) SE ist nicht identisch mit klassischer „Introspektion" (im Lehnstuhl über sich nachdenken...), keine rein kognitive Angelegenheit bzw. abgehoben-philosophische Selbstreflexion.

(2) SE ist kein Selbstzweck, sondern auf die therapeutische Kompetenz von Therapeut(inn)en ausgerichtet; die Förderung des „Privatlebens" oder des „allgemeinen menschlichen Wohlbefindens" von Therapeuten ist deshalb allenfalls sekundäres Ziel oder ein günstiger Begleiteffekt.

(3) SE ist aber auch keine ständige „narzisstische Nabelschau" (welche im Extremfall für Therapeuten wichtiger werden könnte als ihr beruflicher Alltag, für die die Selbsterfahrung/Selbstreflexion schließlich gedacht ist).

(4) SE ist nicht vorrangiges, einziges oder gar ausschließliches Qualifikations-Kriterium für angehende Therapeuten.

(5) SE während der Ausbildung strebt keine Utopien an (wie z.B. „Vollkommenheit", „Fehlerlosigkeit", „Perfektionismus" oder das Erreichen einer „idealen Therapeutenpersönlichkeit" etc.).

 

Der Rahmen
Prinzipiell ist der Gruppenrahmen zu bevorzugen, da der dort mögliche interaktive Austausch erst die Konfrontation mit anderen Perspektiven und das Erkennen "blinder Flecken" ermöglicht. Vor allem können spontane Interaktionsprozesse der Gruppe aufgegriffen und genutzt werden. Dabei sind auch organisatorische Überlegungen wichtig (z.B. Kriterien der optimalen Gruppenzusammenstellung, Herstellen instrumenteller Gruppenbedingungen inkl. einer sanktionsfreien Atmosphäre etc.).

 

Einige Methoden für die praktische Umsetzung
Strukturierte Rollenspiele, gezielte Simulationen, Aufgaben, Gruppenübungen, Selbstexperimente, emotionale Rekonstruktionen vergangener Erfahrungen, gelenkte Phantasieübungen („Was-wäre-wenn"-Szenarien), „Real-life"-Erlebnisse, Konfrontation mit Aufzeichnungen eigener Therapiesitzungen (Video- / Tonbandaufnahmen), Fremd-Feedback etc.

 

Durchführungsmodalitäten
Workshops, kontinuierliche geschlossene Selbsterfahrungsgruppen über einen längeren Zeitraum, Selbsterfahrung im Zuge der Ausbildung / Supervision sowie während der späteren Berufstätigkeit, sporadischer Besuch von Selbsterfahrungs-Angeboten auch für bereits „fertige" Therapeuten, Selbstkonfrontation sowie Fremd-Feedback im beruflichen Alltag (z.B. mittels kollegialem Austausch, Supervision) etc.

 

Rolle und Aufgaben der Selbsterfahrungs-Leitung
In Einklang mit der Philosophie des Selbstmanagement-Ansatzes ist der/die SE-Leiter(in) Katalysator bzw. Impulsgeber, lenkt die Aufmerksamkeit auf persönliche Anteile (Stärken und Schwächen), hilft beim Herstellen eines Bezugs zur Therapietätigkeit und stimuliert den Prozess der Selbsterfahrung/Selbstreflexion.

Zu diesem Zweck besitzt er/sie ein breites Arsenal an prinzipiellen Selbsterfahrungsmethoden (in Form einer Art „Programmbibliothek", die eine person- und gruppenbezogene Auswahl von Maßnahmen ermöglicht). Er/sie ist außerdem sensible(r) Beobachter(in) von individuellen und Gruppenprozessen, die er/sie aufgreift und für die Selbsterfahrung unmittelbar nutzbar macht.

 

Der duale Prozess der Selbsterfahrung/Selbstreflexion
Selbsterfahrung und Selbstreflexion sind in diesem Verständnis zwei ineinandergreifende Prozesse, die immer in Kombination praktiziert werden. Das prinzipielle Vorgehen kann grob anhand der folgenden Schritte beschrieben werden:

Schritt (1) „Selbsterfahrung"
Zunächst geht es immer darum, bestimmte Erfahrungen zu machen bzw. gemachte Erfahrungen zu erinnern.

Dies kann aktuell durch die Anleitung zu neuen Erfahrungen im Hier und Jetzt (z.B. durch bestimmte Selbsterfahrungs-Übungen) geschehen bzw. vergangenheitszentriert ablaufen (z.B. durch Aufmerksamkeitslenkung auf bereits gemachte Erfahrungen, emotionale Rekonstruktionen vergangener Ereignisse etc.). Auch eine zukunftsorientierte Ausrichtung durch Beschäftigung mit gelenkten Phantasien („Was-wäre-wenn...") ist möglich.

Schritt (2) „Selbstreflexion"
Hier erfolgt dann das Reflektieren und Bearbeiten der in (1) gemachten Erfahrungen.
Bei der retrospektiven Betrachtung (Was bedeutet die Erfahrung XYZ für mich? Gibt es typische Muster, funktionale Bedingungen und Zusammenhänge?) sollte auch der Bezug zur Tätigkeit als Therapeut hergestellt werden. Dies kann durch entsprechende Fragen der SE-Leitung geschehen (z.B. Welche Bedeutung hat diese Erfahrung für das therapeutische Tun? Ist sie hilfreich, nützlich bzw. schädlich oder ein potentielles Risiko?).

Die prospektive Beschäftigung richtet den Blick auf künftige Situationen und fördert den kritisch-konstruktiven Umgang mit bestimmten Erfahrungen: Welche Schlussfolgerungen ziehe ich für mich daraus? Was ist OK und kann bleiben? Was kann ich nutzen? Wo sollte ich vorsichtig sein? Welche Schwächen muss ich akzeptieren? Welche Aspekte sollte ich ändern/aufmerksam beobachten/kontrollieren etc.?

 

Selbsterfahrung während der Ausbildung: Mögliche Inhalte

Einteilungsgesichtspunkt: Zeit-Ebene, d.h. vergangene, gegenwärtige und zukünftige Erfahrungen.

Bezogen auf die jeweilige Vergangenheit von Therapeuten kann eine lerntheoretische Analyse der jeweiligen Lebensgeschichte, der Herkunftsfamilie sowie der bisherigen beruflichen Sozialisation hilfreich sein, immer verbunden mit den Fragen: „Was beeinflusst mich davon heute noch?" sowie „Was wirkt sich davon auf meine therapeutische Tätigkeit aus?"

Gegenwartszentriert können positive und negative Erlebnisse im Therapiekontext und im Alltag auf personspezifische Muster hin analysiert werden. Die Analyse und Reflexion der unmittelbaren eigenen therapeutischen Arbeit (am besten mit Hilfe von Tonband- oder Videoaufzeichnungen) hat übergeordneten Stellenwert, ebenso ein systematischer Versuch mit einem persönlichen Veränderungsprogramm („Selbstmodifikation") oder die Eigenerfahrung mit typischen VT-Methoden. Das Hineinversetzen in die Situation von Klienten, das Erkennen eigener „irrationaler" Therapeutenhaltungen (z.B. „Ich muss mit allen Klienten und Störungsbildern immer perfekt sein!") und die Beschäftigung mit persönlichen Wertvorstellungen (auch: Was ist für mich „gute" Therapie? etc.) sind hier ebenso zu nennen wie die Beschäftigung mit Maßnahmen zur persönlichen Psychohygiene bzw. Prävention von „Burnout" oder der Umgang mit ethisch-berufsständischen Richtlinien.

Zukunftsorientierte Selbsterfahrung richtet den Blick nach vorn und thematisiert sowohl beruflich-therapeutische als auch persönlich-private Ziele und Pläne. Sie beschäftigt sich auch damit, mit welchen potentiellen Problemsituationen Therapeut(inn)en wegen ihrer personspezifischen Einflüsse in Zukunft rechnen und umgehen müssen.

(vgl. auch Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 2011, S.441 ff.)

 

© Dr. Dieter Schmelzer

 

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